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Keiner ist so blind wie einer, der nicht sehen will

Warum Verdrängung, kognitive Dissonanz und emotionale Schutzmechanismen uns in die Irre führen – und was wir dagegen tun können.

Wir alle kennen diese Situation: Jemand steckt in einer toxischen Beziehung, einem aussichtslosen Job oder wiederholt die immer gleichen Fehler – und obwohl die Fakten auf dem Tisch liegen, scheint die Person sie schlichtweg nicht sehen zu wollen. Wir stehen daneben, beobachten, raten, warnen – vergeblich.

«Keiner ist so blind wie einer, der nicht sehen will.» Ein Sprichwort, das schmerzlich treffend beschreibt, was passiert, wenn psychologische Abwehrmechanismen stärker sind als jede noch so klare Realität.

Aber warum «wollen» Menschen manchmal nicht sehen, was offensichtlich ist?

1. Die Macht der Verdrängung

Verdrängung ist kein Zeichen von Dummheit, sondern von psychischem Selbstschutz.

Wenn etwas zu schmerzhaft, zu bedrohlich oder zu identitätserschütternd ist, um es anzunehmen, dann wird es schlichtweg ausgeblendet. Nicht aus Faulheit oder Ignoranz – sondern weil unser System so überleben will.

Doch was verdrängt wird, bleibt nicht weg. Es wirkt weiter – im Untergrund, in Entscheidungen und in Beziehungen.

2. Kognitive Dissonanz – wenn Fakten nicht ins Weltbild passen

Der Mensch strebt nach innerer Konsistenz. Passt unser Verhalten, unsere Überzeugungen oder unsere Realität nicht zusammen, entsteht ein unangenehmer Spannungszustand, die sogenannte kognitive Dissonanz.

Ein Beispiel:

«Ich bin ein guter Mensch, aber mein Verhalten verletzt andere.»

Um diese Spannung zu lösen, ändern wir jedoch häufig nicht unser Verhalten, sondern unsere Interpretation der Realität. Wir reden uns Dinge schön, leugnen Fakten oder schieben die Verantwortung auf andere. Blindheit als Selbstschutz.

3. Emotion schlägt Information

Das Gehirn ist kein neutraler Rechner. Es bewertet, sortiert und filtert, vor allem nach emotionaler Relevanz. Selbst wenn jemand mit Fakten konfrontiert wird, heisst das noch lange nicht, dass diese bei ihm ankommen. Wenn der Preis der Erkenntnis zu hoch ist, weil sie etwa Schuldgefühle, Angst oder Scham auslöst, wird der Blick lieber abgewendet. Nicht, weil man nicht kann, sondern weil man (noch) nicht bereit ist.

4. Was hilft – und was nicht

📌 Konfrontation hilft selten. Je mehr wir auf jemanden einreden, desto stärker wird der innere Widerstand.

📌 Empathie ist hilfreicher. Wer sich gesehen und nicht bewertet fühlt, kann sich eher öffnen.

📌 Fragen statt Ratschläge. Gute Fragen wirken wie Licht: Sie beleuchten blinde Flecken sanfter als jedes Urteil.

📌 Zeit lassen. Niemand sieht früher, als er bereit ist.

5. Und wir selbst?

Wir sehen die «Blindheit» anderer nur allzu leicht – unsere eigene jedoch kaum. Wir alle haben Bereiche, in denen wir wegsehen. Aus Angst, aus Bequemlichkeit oder aus Loyalität.

Der Unterschied ist nur: Manche machen sich irgendwann auf den Weg.

Nicht, weil sie gezwungen wurden, sondern weil etwas in ihnen leise flüstert:
«Da ist noch mehr.»
«Da stimmt etwas nicht.»
«Da will ich hinschauen, auch wenn es wehtut.»

«Keiner ist so blind wie einer, der nicht sehen will» ist kein Urteil. Es ist eine Einladung zur Selbstreflexion. Nicht jeder sieht das, was du siehst. Nicht jeder will sehen, was gerade ist. Aber wir können Bedingungen schaffen, in denen Sehen wieder möglich wird: durch Verständnis, Geduld und manchmal auch durch mutiges Hinschauen auf uns selbst.