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Wahrnehmung 2.0 – warum wir (immer noch) nicht alles sehen, aber ganz anders filtern

Was hat sich seit meinem Beitrag «Same same but different – unsere Wahrnehmung» getan? Biologisch betrachtet arbeitet unser Gehirn noch immer mit denselben Prinzipien. Es sucht nach Mustern, ordnet Eindrücke und versucht, Bedeutung in Reize zu bringen. Doch die Welt, in der diese Wahrnehmung stattfindet, hat sich verändert – sie ist digitaler, schneller und reizintensiver geworden. Grund genug, unsere Wahrnehmung im Licht aktueller Erkenntnisse der Werbepsychologie neu zu betrachten.

Von Gestalt zu Gehirn: Die alten Regeln gelten, aber anders

Im ursprünglichen Artikel (Same same but different – unsere Wahrnehmung) ging es um die Gestaltgesetze: Wir nehmen Dinge ganzheitlich wahr, ordnen Vordergrund und Hintergrund und suchen nach Zusammengehörigem. Diese Prinzipien gelten weiterhin – heute allerdings oft subtiler und in einem komplexeren Kontext.

Zum Beispiel nutzen moderne Anwendungen wie Augmented Reality oder nutzerzentriertes UX-Design gezielt genau diese Gesetzmässigkeiten. Buttons auf Websites werden dort platziert, wo unser Auge sie erwartet. Ähnliche Inhalte werden gruppiert. Und Microinteractions – kleine Animationen bei Klicks oder beim Scrollen – aktivieren genau jene Mechanismen im Gehirn, die für Wiedererkennung und Ordnung zuständig sind.

Neuromarketing-Studien zeigen zudem, dass unser Gehirn besonders stark auf vertraute visuelle Codes reagiert: bestimmte Farben, Schriften oder Bildmotive aktivieren unbewusste Erinnerungen und beeinflussen unsere Entscheidungen – bevor wir überhaupt denken.

Ein praktischer Tipp: Gestalte nicht nur sichtbar, sondern auch erwartungskonform. Überlege dir: Was glaubt der Betrachter zu sehen? Und wie kannst du mit seiner Erwartung spielen?

Aufmerksamkeit ist ein Währungskonto – und wir sind oft pleite

Im ersten Artikel habe ich beschrieben, wie selektive Aufmerksamkeit funktioniert. Diese Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, ist heute noch relevanter – weil unser Aufmerksamkeitsbudget täglich überstrapaziert wird. Aufmerksamkeit ist also eine knappe Ressource – und für Werbung ein umkämpftes Gut.

Was heute besonders gut funktioniert:

  • Emotionale Relevanz: Es kommt nicht auf den grellen Reiz an, sondern auf die emotionale Bedeutung. Ein roter Ferrari erzeugt zwar Aufmerksamkeit, aber nur, wenn er mit einem inneren Wunschbild (z. B. Freiheit oder Status) verknüpft ist.
  • Kontextualisierung statt Kontrast: Überraschung funktioniert nur, wenn sie aus dem Erwartbaren herausbricht – nicht, wenn sie schrill und zusammenhangslos erscheint.
  • Bewegung zieht Blicke auf sich: Animationen, Scroll-Effekte und Videos aktivieren auf urinstinktive Weise die Aufmerksamkeit. Unser Gehirn reagiert nämlich seit jeher sensibel auf Bewegung, da diese potenziell auf Gefahr oder Gelegenheit hinweisen könnte.

Wahrnehmung im digitalen Zeitalter: von Push zu Pull

Früher «drückte» Werbung Botschaften in unser Bewusstsein – heute «zieht» sie unsere Aufmerksamkeit – oft mithilfe cleverer Algorithmen. Plattformen wie TikTok oder Netflix zeigen uns Inhalte, die wir (vermutlich) sehen wollen – selbst, wenn uns das nicht bewusst ist.

Das führt zu sogenannten Wahrnehmungsblasen. Unsere Aufmerksamkeit wird darauf trainiert, sich auf bestimmte Reize zu konzentrieren, während wir andere schlicht ausblenden. Werbung muss deshalb nicht mehr nur auffallen, sondern auch relevant und passend erscheinen. Vor allem die erste Sekunde entscheidet darüber, ob eine Botschaft weiterverarbeitet wird oder im Datenrauschen untergeht.

Moderne Tricks der Werbepsychologie

Viele klassische psychologische Wirkmechanismen wurden weiterentwickelt:

  • Kontraste funktionieren heute besonders gut in Form von bewegten Bildern oder überraschenden inhaltlichen Brüchen.
  • Neues und Unbekanntes zieht uns weiterhin an – inzwischen oft durch Gamification oder interaktive Inhalte.
  • Platzierung im Sichtfeld bleibt zentral, wird heute jedoch datenbasiert gesteuert – Eye-Tracking und Heatmaps zeigen, wohin wir wirklich blicken.

Dazu kommen neue Methoden:

  • Personalisierung durch KI: Inhalte passen sich unserem Verhalten an – zum Beispiel durch dynamische Produktplatzierungen.
  • Psychografisches Targeting: Werbung spricht uns basierend auf unserer Persönlichkeit an (z. B. rational vs. emotional, abenteuerlustig vs. sicherheitsorientiert).
  • Emotional Priming: Noch bevor wir die Botschaft wahrnehmen, wird unsere Stimmung beeinflusst – etwa durch Farbwahl, Musik oder ein bestimmtes Wording.

Fazit: «Same same» bleibt – aber das «different» wird raffinierter

Unsere Wahrnehmung folgt nach wie vor den Grundgesetzen, die ich im Beitrag «Same same but different – unsere Wahrnehmung» beschrieben habe. Doch wie diese Prinzipien genutzt werden, hat sich verändert. Heute geht es weniger um Auffälligkeit – und mehr um Passung, Relevanz und emotionale Resonanz.

Wer heute Inhalte gestaltet – ob für Werbung, Websites oder Präsentationen – muss verstehen, wie unser Gehirn filtert, vergleicht und einordnet. Nur wer nicht nur wahrgenommen wird, sondern auch «richtig» verstanden wird, bleibt im Gedächtnis.