«Folge deiner Leidenschaft!» – ein Satz, der motivieren soll. Leidenschaft kann beflügeln, Sinn schenken und Kraft geben. Doch sie kann auch zu viel werden. Dann, wenn sie uns verschlingt.
Wenn Arbeit zur Identität wird
Leidenschaft für den Job fühlt sich richtig an. Sie gibt Halt und Bedeutung. Doch manchmal kippt sie. Dann wird die Arbeit nicht mehr nur zu einem Teil des Lebens, sondern zum Leben selbst. Wer seinen Wert fast ausschliesslich über Leistung und Erfolg definiert, lebt in einem stillen Risiko. Solange alles gut läuft, fühlt es sich grossartig an. Sobald jedoch etwas schiefläuft, bricht das System zusammen. Psychologisch sprechen wir in diesem Fall von obsessiver Leidenschaft: Hingabe wird zu Zwang und Begeisterung wird zu Getriebenheit.
Die leise Erschöpfung
Anfangs stehen Freude und Stolz im Vordergrund. Danach wächst der Druck. Der Tag wird länger, der Schlaf kürzer und die Gedanken beginnen zu kreisen. Der Körper beginnt zu sprechen: Verspannungen, Kopfschmerzen, Erschöpfung. Doch wer leidenschaftlich ist, hört selten hin, denn Ausruhen fühlt sich wie Schwäche an.
Der Job-Stress-Index 2022 zeigt, dass 30,3 % der Erwerbstätigen in der Schweiz emotional erschöpft sind.
Wenn Hingabe ausgenutzt wird
Leidenschaftliche Mitarbeitende gelten als verlässlich – und werden oft überlastet. Besonders in sozialen Berufen und im mittleren Management entsteht ein Spannungsfeld aus hohem Anspruch, geringem Entscheidungsspielraum und geringer Distanz zur Arbeit. Hier beginnt die Überforderung.
Wenn nichts mehr geht
Wenn der Körper schliesslich stoppt, stellt sich Leere ein. Manche nennen es Burn-out. In Wahrheit ist es ein Zustand, in dem nichts mehr funktioniert. Der Weg zurück dauert Wochen, manchmal sogar Monate. Er beginnt mit Schlaf und Stille – und der Frage: «Wer bin ich, wenn ich nicht arbeite?»
Die Kunst, nicht immer zu brennen
Leidenschaft ist wertvoll, aber sie braucht Grenzen und Raum zum Atmen. Resilienz entsteht, wenn Menschen über mehrere starke Säulen verfügen: Beziehungen, Bewegung, Kreativität und Natur. Arbeit darf Teil des Lebens sein, aber nicht dessen Ersatz. Psychologisch gesunde Leidenschaft ist ruhig, kennt Pausen und lässt Zweifel zu.
Leidenschaft darf brennen – aber sie darf dich nicht verbrennen
Unsere Gesellschaft feiert das Brennen. Doch wer dauerhaft brennt, verbrennt irgendwann. Leidenschaft sollte nähren, nicht verzehren. Sie darf glühen, aber sie braucht auch Schatten. Denn am Ende zählt nicht, wie viel wir schaffen, sondern ob noch genug von uns übrig bleibt, um das Leben zu spüren.